31. Dezember 2023
Jörg Metzinger zu einem aktuellen Thema:
Silvester - ein Abend auf der Schwelle
Der Silvesterabend, die letzten Stunden des vergehenden Jahres: das ist wie auf der Schwelle, weder draußen noch drinnen. Irgendwie dazwischen. Das alte Jahr ist eigentlich vorbei, aber eben noch nicht ganz. Das neue fängt erst an. Solche Schwellen sind schwierig, deshalb spricht man von „Schwellenangst“ und nicht von „Schwellenfreude“. Jugendliche in der Pubertät, keine Kinder mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Schwangerschaft, das Kind schon da, aber noch nicht geboren. Der letzte Arbeitstag vor der Rente, auf Umzugskisten in der alten Wohnung sitzen, gerade eine Beziehung beendet und erster Abend wieder auf der Piste. Schwellenzeiten. Der alte Zustand ist verlassen, der neue noch nicht erreicht oder noch nicht gefestigt. In diesen Zeiten sind die Menschen anfälliger, verletzlicher. An den Übergängen vom Tag zur Nacht, in der Dämmerung, geschehen häufiger Unfälle. Am Übergang von der Nacht zum Tag, gegen 4 Uhr morgens, kommt es bei Kranken verstärkt zu Krisen.
Froh ist der Mensch, der den Übergang hinter sich hat. Deshalb gibt es zu allen Zeiten und an allen Orten der Erde „Schwellenbräuche“, um Übergänge zu bewältigen. So rund um die Türschwelle: Die Braut wird über die Schwelle getragen. Ein Sarg darf beim Hinaustragen nicht auf der Schwelle abgesetzt werden. Sie wird mit Blut angestrichen oder etwas darunter vergraben. Bräuche gibt’s auch auf der Schwelle zwischen den Jahren: Blei gießen, Raketen zünden, mit Sekt anstoßen. Über Dinner for One lachen. Christinnen und Christen feiern an der Schwelle zwischen altem und neuem Jahr einen Gottesdienst. Bedenken, was im alten Jahr leider oder Gott sei Dank zurückbleibt. Machen sich klar, was im neuen Jahr hoffentlich oder leider auf sie zukommen kann. Wenn‘s nach den Medien geht, bleibt zurück: ein Jahr zum Vergessen, ein Jahr der Pleiten und Pannen, von Bahn bis Galeria. Ein Jahr der Katastrophen, der Kriege, der Grausamkeiten. Doch jeder Mensch sieht anders, hat andere Erlebnisse. Manch eine hat im vergehenden Jahr einen lieben Menschen verloren, vielleicht noch in den letzten Tagen und Wochen. Ein anderer blickt auf Schönes zurück: Ein Kind, das geboren wurde, ein Mensch, den man gefunden hat, Erfolg im Beruf, was auch immer. Loslassen können, loslassen müssen, das Gute wie das Böse, das, was gelang, und das, was Bruchstück bleibt. Sich klarmachen, was kommt. Wenn’s nach den Medien geht: harte Zeiten, Sparen in allen Haushalten. Schlimme Zeiten, weiter Krieg, Zerstörung, Naturkatastrophen, Klimaflüchtlinge, Demokratiefeinde.
Auf der Schwelle innehalten, jede und jeder für sich und doch gemeinsam miteinander, in den Silvestergottesdiensten vor der Böllerei. Ballast abwerfen - ich glaube als Christ an den, der sagt: „Siehe ich mache alles neu!“ Und tanke Kraft bei dem, der zu mir hält auch wenn alle mich verlassen. Es ist für mich tröstlich, mit anderen gemeinsam mich zu vergewissern: wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.
Landespfarrer Jörg Metzinger ist seit 2022 Evangelischer Beauftragter beim Saarländischen Rundfunk und Leiter des Evangelischen Rundfunkreferates Saar.